Autobiografie mit Fotos
Teil 6
Im Januar 1991 erhielt ich einen Brief aus Deutschland von Ortrun Staude, einer deutschen Bergsteigerin, die ich 1982 am Mamisoni-Pass in Georgien kennengelernt hatte. Ortrun fragte mich, wo ich bin und was ich mache, ob ich nicht Lust hätte, sie in Deutschland zu besuchen. Sie teilte mir mit, dass sie verheiratet ist und zwei Kinder hat. Ich antwortete, dass ich einen Sohn habe und mich mit Fotografie beschäftige.
Am 20. Dezember 1991 landete ich am Flughafen Berlin-Schönefeld. Niemand holte mich ab. Ich fand das Informationsbüro und zeigte den Briefumschlag mit der Einladung. Es stellte sich heraus, dass Ortrun nicht in Berlin, sondern in dem Dorf Vietmannsdorf in der Nähe von Templin lebte. Wie komme ich nach Templin? Die Fahrkarte kostete 12 Mark, sagten sie mir am Bahnhof. "Ich habe nur zehn." Die Kassiererin war überrascht, fand für mich aber eine günstige Fahrkarte. Und so war ich im Zentrum von Berlin am Alexanderplatz. Ich konnte den Fahrplan nicht verstehen. Ich sprach schlecht Englisch. Ich verstand noch schlechter. Aber die Freude überwältigte mich, als ich sah, was ich sah. Menschen! Sie sind anders. Sie sehen anders aus, bewegen sich anders. Sie sind frei und glücklich (obwohl sie ihr Glück nicht verstehen).
Ich hatte das Gefühl, auf einem anderen Planeten gelandet zu sein.
Am Abend kam ich auf dem Bauernhof bei Ortrun und Martin an.
Almut, Tochter von Ortrun und Martin. Dorf Vietmannsdorf 1991
Martin mit seinem Sohn. Dorf Vietmannsdorf 1991
Ich habe der Familie von Ortrun geholfen, die Wände auf ihrem Bauernhof vor Neujahr zu verputzen. Zu Weihnachten fuhr ihre Familie in den Norden des Landes an die Grenze zu Polen ins Dorf Oderbruch, um Martins Eltern zu besuchen und nahm mich mit. Eine nächtliche Straße durch den Wald, das Auto fährt fast lautlos, im Auto erklingt Weihnachtsmusik – Pergolesi, Vivaldi, Bach. Wie im Märchen!
Martins Eltern besassen einen Blumenladen. Martins Vater zeigte mir sein großes Gewächshaus, das sich bis zum Horizont erstreckt. Ich traf Martins Schwester, Pfarrerin Sabine Müller.
Pfarrerin Sabine Müller. Essen 1995
Sie gab mir ihre Berliner Telefonnummer mit den Worten: „Treffen Sie mich in Berlin.“ Untergebracht bin ich im zweiten Stock in einem Gästezimmer. Abends gingen alle in die Kirche. In einer überfüllten Kirche rief der Pfarrer nach der Weihnachtsmesse die Gemeindemitglieder auf, Russland zu helfen. Ich sagte Ortrun, dass ich einige Kindersachen nach Russland mitnehmen könnte, da ich mit dem Zug nach Moskau zurückfahren werde. Am nächsten Tag brachte mir Ortrun mehrere Kartons mit Kinderschuhen. Im Zug Berlin-Moskau werde ich später 16 Gepäckstücke haben.
Im Januar erfahre ich, dass das Land UdSSR, aus dem ich nach Deutschland geflogen bin, nicht mehr existiert. Es gibt die GUS, die Union Unabhängiger Staaten. Ich höre auch Gerüchte, dass in Russland eine Wirtschaftsreform stattgefunden habe, die Preise wurden "befreit“. Das bedeutet, dass niemand Geld hat, Rubel-Ersparnisse werden vor unseren Augen zu Papier. Ich muss mit Geld, mit D-Mark, nach Russland zurückkehren, sonst werden wir nicht überleben. Ich lebe mit meinen Eltern und meiner Schwester in Gorki. Ich habe einen Sohn, Slava, der zwei Jahre alt ist, und obwohl ich nicht bei seiner Mutter lebe, muss ich ihnen helfen.
Ortrun hat mich mit ihren Eltern, Ärzten, im Wohngebiet Berlin-Buch angesiedelt. Ich hatte das Gefühl, dass Ortruns Eltern mit der Entscheidung ihrer Tochter unzufrieden waren. Deshalb habe ich versucht, ihre Aufmerksamkeit so wenig wie möglich zu erregen. Wenn sie bereits bei der Arbeit waren, wachte ich im Gästezimmer auf, frühstückte und ging für den Tag in die Innenstadt. Im ersten Monat in Berlin hatte ich ständig Hunger, weil das Geld sehr knapp war und ich jeden Pfennig gespart habe. Jeden Tag traf ich auch jemanden in der Hoffnung, dass er mich zum Essen einladen würden. Es hat nicht immer geklappt. Oft war das meine Schuld, denn auf die Frage, ob ich Hunger habe, verneinte ich. Dies war eine „sowjetische Gewohnheit", die man ablegen musste, um nicht zu verhungern. Mein erster Versuch in einem Supermarkt scheiterte, weil ich nicht wusste, was ein Pfand ist. Später erklärten sie mir, dass die 1 D-Mark ein Pfand sei und ich das Geld zurückbekomme, indem ich den Wagen wieder an seinen Platz stelle.
Wie habe ich Berlin im Jahr 1992 gesehen?
Denkmal für die Künstlerin Käthe Kollwitz auf der nach ihr benannten Straße, in der meine erste Ausstellung in Berlin stattfand. 1992
„Neue Synagoge“ in der Oranienburger Straße. Eine der wenigen Synagogen, die die Kristallnacht überstanden haben. Berlin 1992
Anarchistisches Viertel, wo sich heute der Potsdamerplatz befindet – 1. Berlin 1992
Anarchistisches Viertel– 2. Berlin 1992
Französische Kathedrale am Gendarmerieplatz. Berlin 1992
Am siebten Tag meines Lebens in Berlin fragte mich der Vater von Ortrun, wie ich mich mit öffentlichen Verkehrsmitteln fortbewege. „Kein Ticket“, antwortete ich. Tatsache ist, dass es in der Berliner U-Bahn keine Drehkreuze gibt. Du steigst einfach ein und fährst los. An jedem Bahnhof konnten die Kontrolleure in den Wagen einsteigen und man musste dann ein Bußgeld von 40 Mark zahlen. Außerdem, so wurde mir gesagt, könnte man mich „im Computer speichern“ und es würde Ärger geben. Ortruns Vater gab mir ein Ticket für 4 Fahrten worauf eine Fahrt bereits entwertet war. Ich habe den zweiten Punkt 15 Mal gelocht, bis mir erklärt wurde, dass jeder Punkt nur einmal gelocht werden darf. Ich hätte es selbst erraten sollen, aber... Und so kehrte ich nach zehn Uhr abends in das Wohngebiet zurück, lochte den dritten freien Punkt. Zwei Polizisten mit einem hübschen Dobermann-Pinscher stiegen in die U-Bahn und überprüften meinen gültigen Fahrschein. Für mich war damit alles klar. Ein paar Tage später lochte ich den vierten und letzten Punkt auf der Fahrkarte, kam spät abends zurück, und schon wieder gab es eine Kontrolle. Ich hatte Glück.
Die Rettung kam von meinen neuen Freunden, einer Familie pensionierter Auswanderer aus Riga. Sie sagten, man könne nicht ohne Ticket reisen. „Wir geben dir 20 Mark, du zahlst 20 eigene dazu und kaufst dir eine Monatskarte.“ Genau das habe ich getan. Ich bin nie wieder ohne Ticket gereist, auch nicht in Russland.
Ortruns Freund Jörg Beuge übernahm die Organisation meiner Ausstellung in Berlin. Ortrun brachte mich bei seinen Eltern in Berlin-Buch unter.
Mit Jörg Beuge in Ost-Berlin. 1992
Am 31. Januar 1992 wurde meine erste Ausstellung in Berlin-Prenzlauer Berg in der Kollwitzstraße 93 eröffnet.
Der Kulturladen. Berlin-Prenzlauer Berg 1992
Wenige Tage nach der Ausstellungseröffnung kaufte eine Mitarbeiterin des Kulturladens von mir ein Foto „Portrait of Mascha“ (Mascha Bell) als Geburtstagsgeschenk für ihre Freundin.
Mascha Bell. Moskau 1984
Eine Woche später stellte mir Uta A., Ortruns Freundin, den Vorstandsvorsitzenden des Missionswerks Berlin vor, der mir für die astronomische Summe von 500 D-Mark zehn Fotografien abkauft. Jetzt hatte ich etwas, mit dem ich nach Russland zurückkehren konnte !
Nach der Eröffnung der ersten Ausstellung im Kulturladen wurde mir angeboten, eine Ausstellung im Kino Babylon im zentralen Bezirk Berlin (Berlin-Mitte) zu machen. Die Straßen rund um das Kino waren mit meinen Plakaten übersät. Ein berühmter Barde in Berlin sang zur Eröffnung der Ausstellung. Er erzählte mir: „Es ging ihm schlecht, aber meine Fotos inspirierten ihn und gaben ihm Hoffnung für die Zukunft“. Schade, dass ich mich nicht an den Namen dieses Sängers erinnere.
Kino Babylon. Berlin-Mitte 1992
Am 20. Februar 1992 lief mein zweimonatiges Visum ab und mir wurden zwei weitere Ausstellungen angeboten. Ich verlängerte mein Visum um einen Monat (maximal drei Monate) und bat Sabine Müller, mir bei der Suche nach einer Wohnung oder einem Zimmer zu helfen, in dem ich für den verbleibenden Monat leben könnte. Sie machte mich mit dem Keramiker Frank Verhau bekannt, der bei der Eröffnung meiner Ausstellung anwesend war.
Frank Verchau bei seiner Werkstatt in der Jablonski-Straße. Berlin 1992
Wir lebten in einer Zweizimmerwohnung, die er in der Jablonski-Straße gemietet hatte. Ich habe seinen Sohn fotografiert, den er einmal in der Woche traf.
Was für wundervolle Menschen ich in Berlin kennengelernt habe!
In den ersten Tagen kam ein junges Mädchen zur Ausstellung, das sich selbst für Fotografie interessierte. Meine Arbeit gefiel ihr und am nächsten Tag kam sie mit der Galeristin Christine Radack zur Ausstellung. Christine verstand Englisch nicht gut, vor allem mein Englisch, und lud mich zu sich nach Hause ein. „Ein Freund wird zu mir kommen und bei der Übersetzung helfen.“ Ihre Freundin kaufte von mir ein Foto des Künstlers Oleg Bordey.
Maler Oleg Bordey. Gorki 1988
So begann meine Freundschaft mit Christine Radack. Ihr verdanke ich viele Bekanntschaften mit Menschen, die mich in Deutschland unterstützt haben.
Es gibt Menschen, zu denen spürt man sofort eine innere Verbundenheit. Maya Elik wurde für mich zu einer solchen Person. Eines Tages zeigte mir Christine Radack ein Foto eines russischen Pianisten, den sie fotografierte, und gab mir seine Adresse. Der Mann, der mir die Tür öffnete, sagte, dass der Pianist nicht mehr hier wohne, seine Frau aber bald zurückkehren würde und ich auf sie warten könne. Es war Maya Elik, eine Musikwissenschaftlerin aus St. Petersburg. Sie wurde 1933 in Prag geboren. Sie erzählte mir, dass sie sich an die Angst ihrer Eltern erinnere, als diese im letzten Moment aus der von den Nazis besetzten Tschechoslowakei flohen, obwohl sie erst fünf Jahre alt war. Sie landeten nicht aus freien Stücken in der UdSSR, aber es gab keinen Ort, zu dem sie fliehen konnten.
1995 lud mich Maya zu sich nach Detmold ein und organisierte eine Ausstellung meiner Fotos bei ihr zu Hause. Maya war sehr gut...
Maya Elik. Essen 1995
Eine weitere Bekanntschaft verdanke ich Christine Radack. 1994, nach fünf Ausstellungen in Berlin, sagte ich Christine, dass ich gerne nach Köln zu einer Galerie gehen würde, die mir im folgenden Jahr eine Ausstellung anbot, aber ich hatte keine Bleibe. „Warte, ich habe jetzt einen Fotografen aus Köln in meiner Galerie ausstellen lassen, ich rufe ihn an“, sagte Christine. Sie redete sehr lange und überzeugte den Fotografen, mich für ein paar Tage mit einer Übernachtung bei ihm zu Hause zu beherbergen. Es war Ibo Minssen, mit dem wir uns anfreundeten und seit 2004 gemeinsam den Kölner Karneval fotografierten.
Ibo Minssen, Richter und Fotograf. Köln 2005
Ich war erstaunt, wie viele Menschen mich unterstützt haben.
Christine Radacks Bekannter Uwe Fechner gab mir die Möglichkeit, in einem Labor in seiner Wohnung Schwarzweißfotografien für meine Ausstellungen zu drucken.
Uwe Fechner. Berlin 1992
Ich mochte Berlin.
Im Oktober 1832 schrieb der deutsche Schriftsteller Heinrich Heine in einem Brief an seinen Korrespondenten, den Komponisten Ferdinand Hiller: "Fragt Sie jemand wie ich mich hier befinde, so sagen Sie: wie ein Fisch im Wasser. Oder vielmehr, sagen Sie den Leuten; daß, wenn im Meere ein Fisch den anderen nach seinem Befinden fragt, so antworte dieser: ich befinde mich wie Heine in Paris“.
Dasselbe kann man auch über mich sagen.
Christine Radack begleitete mich zum Bahnhof Berlin-Lichtenberg. Meine Nachbarn waren ein junger Mann aus Russland und ein deutscher Geschäftsmann. Er brachte einen neuen modernen Computer nach Russland. Als wir uns der russischen Grenze näherten, zitterten alle im Zug. Was erwartet uns? Was ist, wenn sie uns das Geld wegnehmen, das wir verdient haben? Mein Nachbar, ein deutscher Unternehmer, sah unsere Angst: „Das ist nicht normal!“ Dies wiederholte er mehrmals. Aber zum Glück überquerten wir die Grenze ruhig und es wurde niemandem etwas weggenommen.
Christine Radack mit ihrer Tochter. Berlin-Lichtenberg 1992
Übersetzung ins Deutsche: Andreas Ottmer, Osnabrück
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